© Jonathan Philippi 2014
Paris im Sommer 2012
Penners moderne Zeiten
Die Niederlande liegen hinter uns und ein kalter Sommerurlaub. Am 15. Juli war es 15 Grad kalt und die Nordsee hatte 18 Grad.
Brrr.
Aber in Paris ist alles anders. Sogar die Temperatur. Der August ist mit aller Wucht gekommen und kocht die Stadt aus. Ich kann
verstehen, dass der durchschnittliche Pariser die Rollläden runterlässt und in den Süden ans Mittelmeer oder in die Bretagne oder
noch besser in die Berge flieht.
Paris liegt im Koma. Die Touristen sind in der Mehrzahl und den Bedienungen in den Restaurants passt das nicht. Erstens konnten
sie nicht weg, zweitens gibt es zu wenige Bistros, die geöffnet sind. Drittens haben sie deswegen mehr zu tun als üblich und
viertens sind sie sowieso immer etwas grantig. Das erwartet man schließlich, wenn man hier speisen möchte, alles andere wäre eine
herbe Enttäuschung.
Sie lassen uns deutlich spüren, was sie von uns halten. Nun trage ich einen Schlips und steche schon allein dadurch aus der Masse
hervor. Eine Studie besagt, dass 80% der Parisbesucher einmal kommt und dann nie mehr. Mir ist völlig klar warum.
Auf dem Thermometer an der Apotheke am Square Montholon zeigt es abends 38 Grad. Das will aber nichts heißen, die Uhr meint,
es wäre 17.45, dabei ist es halb acht. Offenbar sind die grünen Blinklichter keine Reklame. Sie flackern so wild, weil sie kaputt
sind!
Dass alle Uhren an den Apotheken 20 Minuten vorgehen, habe ich bereits erwähnt, und wenn ihr euch daran nicht mehr erinnert,
dann seid Ihr selbst schuld. Diese aber springt aus dem Rahmen, denn auch morgens ist es 17.45.
Die Hitze ist jedoch allgegenwärtig und die Klimaanlagen schaffen es nicht mehr, uns läuft die Brühe. Wasser ist ausverkauft und
in den Supermärkten kann man nur noch Evian, Vittel und Contrex kaufen, zu 80 Cent die Flasche. Alle billigen Wasser sind aus
dem Regal geräumt und tauchen ab dem 30. August erstaunlicherweise wieder auf. Endlich gibt es Flaschen zu 27 Cent. Äh
Moooooment, die kosteten vorher doch 22 Cent. Ah ich verstehe, die Händler hoffen darauf, dass wir den alten Preis vergessen
haben und bereit sind, den neuen zu zahlen! Bravo. Hätte beinahe geklappt. Aber was bleibt uns armen Konsumenten auch übrig?
Ich habe es lange vermisst, es ist so weit: Es hallt das Geräusch des Sommers über die Trottoirs, da kein Autolärm stört: „Flipp,
flopp, flipp, flopp!“ Barfuß bis zu ultrakurzen Jeanshosen schlürfen vorwiegend Asiatinnen und Asiaten über das Kopfsteinpflaster,
alles knipsend und mit offenem Mund vor verschlossenen Ladentüren stehend.
Nun, ehrlich gesagt, ist der Sound in Paris etwas anders: Es geht mehr: „Flipp, flopp, flipp, flopp, flipp, flopp, flipp, skwatsch!“
Upps, da hat ein Hund was liegen lassen. Es sind also nicht alle im Urlaub. Es zeigt sich, dass es geeigneteres Schuhwerk gibt, die
Metropole zu erkunden. Jedoch fällt mir auf, je breiter der Fuß, desto blumiger die nette Plastikdekoration zwischen den Zehen und
desto bunter die lackierten Nägel. (Also die auf den Zehen, nicht auf den Blumen)
Das Erholungsbedürfnis in einer Pseudo-Natur ist für die Bewohner lebenswichtig. Im Park Montholon an der Rue Lafayette stehen
unter Kastanien so viele Bänke dicht an dicht, wie sie der englische Garten in München nicht hat. Und in den Abendstunden sind
alle besetzt. Schwarze Frauen schauen zu, wie weiße kleine Kinder herumtollen. Die Kindermädchen unterhalten sich in einer
Sprache, die jener der Japaner ähnelt, wenn ihre Flipflops Skwatsch machen. Man trifft sich zum Picknick auf den grünen
Metallbänken, lehnt sich zurück und genießt das Baguette, welche in mysteriöser Weise von winzigen Verkaufständen unendlich
hervorgezaubert werden.
Knackig frisch belegt und einigermaßen billig. Ich frage mich, wo die herkommen. Ich glaube, Paris hat ein geheimes
Tunnelsystem, durch das die Versorgung aufrecht erhalten wird. Zwischen den U-Bahn-Zügen huschen kleine braune Männchen
mit Taschen voller Brote und werfen sie durch die Gitterroste nach oben. Cola und Bierdosen praktischerweise gleich mit.
Die Straßen sind ausgestorben, Ampeln nun völlig überflüssig und nutzlos. Ich genieße die frühe ungewohnte Stille und spaziere
vom Hotel zur Arbeit. 40 Minuten allein mit der Stadt, das hat was. Außerdem macht eine Metrofahrt keinen Spaß, wenn man eine
Viererbank ganz für sich hat. Unterwegs kehre ich in einem jener Bistros ein, die unendlichen Service 7/7 versprechen. Ich sitze
direkt an einem Tisch auf der Rue und trinke einen Café für einen Euro. Das ist das Leben. So muss es sein.
Gegenüber am Straßenrand an einem Baum lauert ein Clochard und starrt auf die wenigen Passanten. Da sich die Kundschaft
drastisch dezimiert hat, kommen auf jeden Touri zwei bis drei dieser Burschen. Eine ältere Dame mit ihren beiden kleinen
Enkelkindern kommt entlanggeschlendert. Die Mädchen zerren an Oma und wollen dem armen Mann finanziell unter die Arme
greifen. Aber Oma möchte nicht. Mein geschultes Ohr erkennt niederländische Klänge und für Sekunden sehe ich die Nordsee,
schmecke das Salz und spüre den Hagelsturm auf den Wangen, die Sandkörner, die im Orkan mein Antlitz glatt geschliffen haben
und der Luftzug, der mir den Atem raubte. Dann ist die Urlaubsstimmung auch schon vorbei, gerade rechtzeitig, bevor ich völlig
durchnässt werde und sich meine Ohren wieder entzünden.
Oma hat eine gelbe Münze herausgerückt, aber es sind zwei Mädchen mit blonden Zöpfen und sie nörgeln und glaubt mir,
holländische Meisjes können ziemlich meckern. Schließlich öffnet sie ihre Börse und entnimmt zweifarbige Münzen. Jedes eine.
Der Mann hat schon die Ohren gespitzt und grinst die Kinder an. Dann schleichen sie nach vorne und werfen aus einiger
Entfernung die milden Gaben neben seinen Starbucksbecher. Sicher ist Sicher. Er bedankt sich, rafft sie auf und hebt winkend
beide Arme. Die Kinder sind glücklich, sie giggeln und ziehen hüpfend weiter. Ich lächele. Ja, das war die gute Tat des Tages.
Doch dann beobachte ich Folgendes:
Der Mann zieht ein I-Phone aus der Tasche (Oder ein Samsung, angeblich sieht man den Unterschied ja nicht) und wischt über die
Tastatur, ohne die Drei aus den Augen zu lassen(!). Er tippt und tippt, wischt und wischt und dann sieht er auf das Display. Mir ist
klar, dass er gerade Koordinaten durchgegeben hat: „Auf der Rue Monte Martre kommen rechts eine Oma und ihre beiden Enkel.
Sie hellblaues Kleid, die Kleinen in orangefarbene Kleidchen und gelben Turnschuhen (Holländer sind cleverer als Japaner, was
die Wahl der Schuhe angeht!) Nehmt sie aus!“
Wau. Es gibt eine Pennerapp für I-Phones. Die Pariser sind uns technisch weit überlegen. Ich sehe vor meinem geistigen Auge ein
asoziales Netzwerk namens „Beggarbook“.
Monsieur LeVoleur hat sich an der Ecke Richelieu Drouot eingeloggt: „Hey Leute, heute nix los?“
„Henry hat eine Pulle mit Schnaps gefunden.“
„Los, Beggarbookparty in der Rue Bleue, zweite Durchfahrt.“ und
„Warnung: Polizei zu Fuß auf dem Boulevard Haussmann.“
„Gefahrenstelle vorbei, sind abgebogen!“
Mann! Ein Riesenmarkt! Ich versuche mir vorzustellen, welche Werbepartner infrage kämen. Jägermeister? Best Western Hotels?
Das Sozialamt? (Das Amt für Behinderte ist übrigens in der Rue Victoire. Ob das Etablissement in der Siegerstraße Zufall ist, sei
mal dahingestellt)
Auf dem Weg passiere ich mehr oder weniger regelmäßig in einem winzigen Vorgarten einen seiner Kollegen. Hinter schwarzem
Eisengeländer liegt eine etwa 3 mal 2 Meter große Wiese. Und genau das ist die Wohn-/Schlafzimmerkombination eines
Menschen. Lag er im Frühling noch auf einer Pappschachtel, sind es inzwischen eine Matratze und ein Nachttisch geworden. Die
Matte ist sauber bezogen und auf dem Schränkchen stehen ein Aschenbecher, ein Wecker und eine Lampe (!). Er ist heute Morgen
halb wach und blinzelt mich an. Lieber kein Foto machen. Er begrüßt die Vögel (Oder meint er mich?). Ich grüße vorsichtshalber
zurück. Man kann also nicht behaupten, dass man als Bettler keine Karriere machen kann. Dieser hat sich sogar hochgeschlafen!
Im Übrigen hat die Hitze die Clochards sehr aggressiv werden lassen. Sie beschimpfen jeden, der nichts gibt und in der Metro
beteuern sie recht lautstark, dass sie das Geld nicht brauchen, um in ein Restaurant zu gehen, sondern zum Leben. Meist habe ich
einen 50er bereit (also die Münze), aber nicht immer. Als Schlipsträger werde ich gerne angegiftet und auch schon mal geschubst.
Aber als halber Einheimischer schubse ich selbstverständlich gerne zurück. Hoppla, Pardon. (Also das Pariser Pardon, ihr erinnert
euch?) Immerhin haben wir Krawattenheinis einen Ruf zu verteidigen.
Die Klimaanlage brummt und brummt, es hilft kaum etwas. Nachts um halb zwei werde ich durch lautes Hundegebell aus dem
Tiefschlaf gerissen. Auf dem Platz vor dem „Gare de l‘Est“ streitet sich eine wild gewordene Meute von Halbwölfen. Es ist kaum
zum Aushalten. Doch die Polizei ist auch schon da. Ich ziehe meine Kontaktlinsen an und öffne das Fenster. Die Verfolgung der
Hunde ist spannender als das ZDF-Programm. (Ich glaube, ich habe erwähnt, dass ich nur das Zweite kriege, oder?) Die Beamte
versuchen, die tollwütigen Kläffer einzufangen, aber das klappt nicht. Die Hunde haben endlich einen ebenbürtigen Partner
gefunden und spielen mit Begeisterung Räuber und Gendarm. Als ein Polizeibeamter seine Waffe zücke, drückt ein Kollege sie
wieder nach unten. Sind bloß Hunde. Nicht schießen. Das Spektakel ist gegen zwei Uhr vorbei und das Rudel hat sich verzogen, so
plötzlich wie es gekommen ist. Ein gutes Dutzend bis an die Zähne bewaffneter Herren in Blauschwarz steht rum. Tja. Alarm
ablasen. Man unterhält sich lautstark und fährt ab. Dabei wird das Blaulicht angemacht und die Sirene. Lärmend entfernen sie sich
über menschen- und autoleere Straßen. Die Nachbarn sollen auch was davon haben.
Am nächsten Tag macht sich die französische Staatsgewalt keine Freunde. Ich spaziere den Boulevard de Strassbourg hinauf zum
Bahnhof und zwänge mich durch eine Menge Afrikaner. Das ist nichts Besonderes, schließlich tobt hier Klein-Afrika. Aber diese
sehen besorgt aus. Sie tuscheln. Dann sehe ich den Grund: An fast jeder Straßenecke gibt es Anbieter diverser Röstköstlichkeiten.
Im Winter Kastanien, nun Maiskolben. In einem „caddie“ steht ein Blecheimer mit Löchern und darüber grillt das Gut.
Sechs Polizisten (und eine Polizistin) löschen das Feuerchen dieses Händlers mit dem teueren Evian-Wasser aus einer Flasche.
Einer nimmt einer einen Bolzenschneider und nähert sich dem Metallwagen in zerstörerischer Absicht. (Dazu sollte man wissen,
dass die Rollwägen in allen Pariser Geschäften aus Kunststoff sind, offenbar, um sie vor einem Schicksal zu bewahren, das dieser
hier gerade erleiden muss). Immer mehr schwarze Menschen kommen, Handys an den Ohren und sehen zu. Nun entdecke ich ein
gutes Dutzend von Mannschaftswagen der Polizei auf der Straße. Die gute Nachricht: Der Bolzenschneider beißt sich den Zahn ab.
Einkaufswagen sind stabiler, als gedacht! Ich wünsche, dass die Metallschere kaputt geht und der Wagen nur einen Kratzer
abkriegt! Ich verfolge das Geschehen aber nicht weiter und mache lieber, dass ich davon komme. Wenn sie herauskriegen, dass ich
ein Deutscher bin, bin ich wieder schuld. Typisch.
Nun denn, macht‘s gut, wo immer ihr seid und wenn ihr mögt, dann lest ihr in 4 Wochen wieder was. Es ist erstaunlich. Aber es
passiert immer was Neues!