© Jonathan Philippi 2014
Paris im Januar 2012
Neues Jahr, neues Glück
Erreicht der unbedarfte Tourist Paris, so ist er von dem vielen Grün sichtlich angetan. Überall schimmert dieser Farbton, nicht nur
im Sommer. Das erste Grün springt einem bereits am Bahnhof formlich in die Augen. Es ist die Leuchtreklame, die signalisieren
soll, dass diese „Pharmacie“ in diesem Augenblick mit großer Wahrscheinlichkeit geöffnet ist, oder auch nicht. Das Blitzen und
Flackern der Tausenden von grünen LEDs (offenbar ein Sonderposten bei Conrad Elektronik) regt mich dermaßen auf, dass in mir
jedes Mal Verständnis für das Waffengeschäft gleich daneben wächst. Als charmanten Service zeigt die Werbung auf dem
aufdringlichen Würfel dann wahlweise die Uhrzeit oder die Grade in Celsius an. Das ist hier besonders hilfreich, denn der
Vertriebspunkt der Pharmamafia liegt innerhalb des Bahnhofgebäudes. So sind auch im Winter Temperaturen um die 14 Grad bei
Eis und Schnee keine Seltenheit.
Wenn zwei dieser Shops direkt nebeneinander oder gar gegenüberliegen, was ausgesprochen häufig vorkommt, merkt man die
Unabhängigkeit des französischen Gesundheitssystems. Meist haben die Uhren unterschiedliche Zeiten und auch verschiedene
Klimazonen. Der Kunde kann nun entscheiden, welcher Anzeige er sein uneingeschränktes Vertrauen schenkt. Die Tatsache, dass
es mehr Apotheken als Ärzte gibt, liegt auch darin begründet, dass die Anzahl der frei verkäuflichen Medikamente erheblich höher
ist als bei uns. Pharmazie ist ein Studium an einer Universität und wieso sollte ich einem Apotheker mehr misstrauen als einem
Arzt? Wieso brauche ich ein Rezept? Gut, früher hätte man tonnenweise Schlaftabletten konsumieren können und es wäre nicht
mal dem Heilkundigen aufgefallen, der den Totenschein ausfüllt. Aber heutzutage ist das aufgrund der Kundenkarten und der
Punktesammelaktionen oder bei den Internetapotheken ja nahezu ausgeschlossen. Wogegen seit Jahren Datenschützer Sturm
laufen, nämlich eine zentrale Patientendatei, haben Payback & Co diese schon lange online im Zugriff. Ich warte nur darauf, dass
eine freundliche Dame mir mitteilt: „Das letzte Mal, als Sie in München waren, haben sie „MIRISNICHGUDD“ gehabt, möchten
Sie hier in Berlin diesmal nicht: „bynäschtschysdrauf forte“ probieren? Zum Sonderpreis. Aber sagen Sie mir, wie es wirkt, damit
ich meine Prämie von der Mafia bekomme. Wenn nicht, mache ich den Strich auf dem Formular eben selber!““
Nun, unsere Nachbarn haben keine Probleme, Medizin ohne die Anweisung eines weißen Gottes einzunehmen. Wieso trauen wir
Teutonen dem pharmakologischen Berufsstand eigentlich nicht?
In einer Woche im verregneten Januar habe ich Gelegenheit, das französische Gesundheitssystem außerhalb der Gilde der Ärzte
ausgiebig einem Test zu unterziehen. Ich habe mir nämlich eine gehörige Erkältung eingefangen, die mich während der Zugfahrt
eines Montagmorgens völlig überrascht hat. Bin ich noch absolut gesund und eine liebliche Melodie vor mich hinpfeifend in
Saarbrücken - der besten Hauptstadt des Saarlandes - in den ICE eingestiegen, so erreiche ich erschöpft und kreidebleich mit einem
unangenehmen Gefühl im Magen Paris - die schönste Hauptstadt Frankreichs. Erstaunlich, was knapp zwei Stunden Zugfahrt über
eine kulturelle Grenze hinweg anzurichten vermögen.
Mein erster Weg führt mich also in die Bahnhofsapotheke. Manchmal muss auch ein Prinzipienreiter über seinen Schatten
springen, was in meinem Fall eher einem Kriechen gleicht. Ich ignorierte stolz das aufdringliche Blitzen und Blinker der grünen
Lämpchen und betrete nahezu aufrecht den Verkaufsraum. Im ersten Moment unterscheidet er sich nicht von den Unsrigen (anders
als in den USA, beispielsweise). Haufenweise Antifalten-Cremes, Schlankheitspillen, Dopingmittel, Hustenbonbons, Badezusätze
und Babyartikel. Hinter einem Tresen wartet eine dunkelhäutige Afrikanerin mit einer strubbeligen Haarpracht, die doppelt so breit
wie ihre Schultern ist.
Nachdem ich kurz mein Leiden in allen Facetten geschildert habe, einschließlich meines Therapievorschlages und des Datums
meines voraussichtlichen Hinscheidens, wenn ich nicht umgehend eine bunte Pille schlucke, erhalte ich ein Rundumsorglospaket.
Ein Halsspray (mit Cortison!), ein Antibiotikum für die Mandeln (zwar nur 200 mg, aber man kann ja eine Schachtel auf einmal
nehmen, meinte die nette Dame aus Afrika), Schmerzlutschtabletten und ein Nasenspray. Ich wollte meine Kreditkarte zücken, als
ich den Preis vernahm und zweimal nachfragen musste: 9 Euro. Soviel kosten bei uns alleine die Halsbonbons in der kleinen
Packung.
Im Büro muss ich dann ausgesehen haben wie der Tod persönlich und ich bin mir sicher, dass ich ihn auch mal kurz winken sah.
Ich demnach am späten Nachmittag ab in eine nahe Apotheke, also in eine der ungefähr 22 auf dem Weg zum Hotel. Ich entscheide
mich für diejenige, deren Uhrzeit ziemlich genau mit der meiner Armbanduhr übereinstimmt. Die angeblichen 12 Grad
Außentemperatur ignoriere ich geflissentlich. Mit bleibt eh kaum eine andere Wahl, da gleich danach schon mein Hotel lauert. Und
nun leide ich richtig heftig. Erneut schildere ich meine Sorge über meinen desolaten Gesundheitszustand und treffe auf einen
mitfühlenden freundlichen Herrn.
„Monsieur!“, sagt er. „Zuerst einmal müssen Sie diese Nacht überleben. Wenn Sie das geschafft haben, sehen wir weiter.“
Dagegen ist nichts zu sagen, ich bin war ja immer schon der Meinung, dass sich ein Studium irgendwann auszahlt. Gut, dass ich
einen Experten um Rat frage. Da mein Nachttisch zu klein ist, stapele ich meine Beute auf dem Schreibtisch in meinem
Hotelzimmer: Ungefähr zehn bunte Schachteln.
Ein Pulver mit Paracetamol und einigen geheimen Urwaldextrakten aus den tiefen Dschungeln von La Réunion, die mir helfen
sollen, zu schlafen. Dazu mehrere Röhrchen mit Kügelchen, die unter der Zunge aufgelöst werden sollen. Ibuprofen 400mg, gleich
50 Stück. Etwas gegen den Schnupfen, eine Salbe und ein Spray für die Nase und die bereits erworbenen Tabletten gegen die
Halsschmerzen.
„Nehmen die zwei Tütchen von dem Granulat namens Fervex, bevor Sie ins Bett gehen!“, rät der Fachmann. „Und danach bloß nix
mehr machen. Haben Sie eine Fernbedienung für das TV?“
„Ja!“
„Gut! Legen Sie die so, dass Sie den Fernseher rasch ausschalten können. Das Zeug wirft Sie um.“
Genau das, was ich will. So rühre ich in meinem improvisierten Chemielabor meine Arznei selbst zusammen. Bunte Plastikflaschen
voll Wasser von drei verschiedenen Quellen, abgepackt bei Vollmond oder über eine automatische Armatur, mir egal, gluckert in
einem Glas, das sicher noch aus der Zeit stammte, als Doktor Frankenstein sein berühmtes Experiment durchführte. Keine Ahnung,
wieso mich in diesem Augenblick die Szene vor meinen Augen flattert, als der Meister den Hebel drückt und ein Blitzschlag das
Monster zucken lässt. Jedenfalls fühle ich mich gerade so. Wobei ich noch entscheiden muss, ob ich Doktor Frankenstein oder
dieser nette Kerl mit der lockeren Schraube im Kopf bin.
Tapfer und ohne den Beipackzettel zu studieren (was eh nix bringt, die mehrseitigen Druckschriften sind noch komplizierter als die
in deutschen Packungen), schlucke ich das bittere Zeug. Boa. Besser in einem Zug.
Wie ich mit Halsschmerzen einen Teelöffel voll Kugeln unter der Zunge zergehen lassen soll, weiß ich nicht, ich kriege es auch
nicht heraus. Immer wieder quetschen sich die Dinger nach oben, schieben sich von allein zwischen die Zähne und werden
instinktiv zermalmt.
Aber der Cocktail wirkt.
Als ich morgens frisch aufwache, ist das Licht noch an.
Erst als ich das Hotelzimmer verlassen merke ich, dass der Schalter defekt ist und man es nicht ausknipsen kann.
Macht nix, das passt zu der sich selbstentleerenden Toilette, die mich um sechs Uhr geweckt hat, was sie fortan alle zehn Minuten
erledigt.
Wenn man so wie ich, eine Erkältung von den Zehen bis zum Kopf hat, (vor allem aber auch dazwischen!), ist so eine
Automatikspülung durchaus angebracht. Ich muss mir nicht den Körper verrenken und den Arm auskugeln, um im Sitzen den
betreffenden Mechanismus auszulösen. Ich denke noch, dass ich es gegen Mittag schaffe und ich aufrappeln kann, um meine
Bazillen zielgerichtet in den Meetings zu verteilen. Aber an der Hoteltür kehre ich um. Mich hat ein Schüttelfrostanfall gepackt. Ich
bin zu schwach, mich auf den Beinen und bleibe den Tag lieber in meinem Zimmer.
Falsche Entscheidung. Habt Ihr euch je einen Tag lang das ZDF reingezogen? (Erwähnte ich schon mal, dass ich nur das Zweite
erhalte?)
Jedenfalls wird mein Französisch an diesem Tag erheblich aufgebessert, selbst Gully TV ist unterhaltsamer.
Aber wir waren ja ursprünglich bei den vielen grünen Flecken hängen geblieben. Sie sind einfach überall, wo immer man auch
hinschaut. Oft muss man einen Bogen um sie machen. Denn grün sind in Paris nicht nur die Müllsäcke an der Seite, die anstelle
eines festen Behältnisses in einen grünen Eisenring und einem grünen Ständer eingeschlagen sind, sondern auch die Mülltonnen
und das dazugehörige Personal. Ja sogar die Straßenbesen haben leuchtend grüne Borsten.
Im Gegensatz zu natürlichen grünen Dingen wie beispielsweise Bäume, sind diese Plastikmonster genau diametral. Bäume sind
unten braun und oben grün. Die Tonnen sind unten grün und oben quellen braune und schwarze Säcke hervor.
An fast jedem Pfosten hängt ein Eisenring und daran ist ein Plastiksack. Kostet wenig und ist rasch geleert. Wer mal einen
Deutschen Stadtreiniger zugesehen hat, der einen Mülleimer leert, weiß das zu schätzen. In unserer beliebten Nachbarstadt -
Völklingen - läuft das so - selbst beobachtet:
Erst mal wird mit einem Spezialfahrzeug angefahren. (Sieht aus wie ein orangefarbener VW Sharan mit Ladefläche). Dann werden
vor und hinter dem Wagen vier rot-weiß gekringelte Kegel aufgestellt. Nicht zu vergessen, eine blinkende gelbe Lampe. Dann wird
mit einem Schlüssel ein Metallbehälter aufgesperrt. Anschließend wird die Kette abgemacht und ein riesiges Sicherheitsschloss
entsichert, um eine normale Mülltonne herauszuziehen. (Der Entsorgungsexperte muss dazu extra in seinem Wagen nach mehreren
Schlüsselbünde suchen, ehe er den richtigen hat.) Fazit: In Deutschland ist Müll so wertvoll, dass man ihn wegsperren muss.
Die schwarze Plastiktonne wird umständlich an einem Haken eingehängt und das Spezialmüllauto von der Größe eines VW-Busses
hebt die Tonne allein mit unglaublich komplexer Hydraulik und entleert sie in einen abgedeckte Müllsammelbehälter zwecks des
sinnlosen Versuches, den Scheiß hinterher wieder zu sortieren. Dabei wird zielgerichtet ein gewisser Prozentsatz gleichmäßig vor
dem Auto verteilt, damit die nachrückende Kehrmannschaft nicht unterbeschäftigt bleibt.
Dann das Ganze retour. Tonne runter, vom Haken, zurück in das Metallgefäß. Äh, welcher Schlüssel war der passende? Egal, der
Herr probiert alle aus.
In der Zwischenzeit sind zwölf Busse angekommen und abgefahren! Ich habe die Zeit gestoppt, als ich auf meine Frau gewartet
habe, die mich vom Zahnarzt abgeholt hatte: 26 Minuten!
An der Seine geht das etwas flotter. Lediglich die eigentliche An- und Abfahrt der Fahrzeuge dauert des Verkehrs wegen erheblich
länger.
Ein Mann, ein Müllbehälter, Ring aufklappen, Sack einmal drillern und rauf auf einen Lkw, neuer Sack rein, Ring zu, fertig, keine
15 Sekunden! Und das zweimal täglich, denn die Dinger sind auch stets voll. An der Ecke meines Hotels stehen ganze Pappkartons
voller Abfall daneben und vor allem früh am Tage auch noch vier oder fünf Plastiktüten.
Gewissenhaft wird alles entsorgt, was nicht mehr zu gebrauchen ist. Dabei spielt der Gedanke des Recyclings schon eine gewisse
Rolle, allerdings eine recht bescheidene. Man übt noch. Es gibt eine Mülltonnen für Glas, Papier, Verpackungen,
Lebensmittelreste, Kartonagen, Metall und Plastik. Wohlgemerkt EINE. Alles rein damit. Sie sind, wie bereits erwähnt, ökologisch
grün, blau, orange oder schwarz und grau. Egal, sie werden als das genutzt, was draufsteht: Müll eben.
Vor kurzen soll ein Institut herausgefunden haben, dass sich die grüne Farbe durch Haushaltschemie auflösen könne und dabei
würde sie Krebs erzeugen. Es wurde umgehend eine Warnung an spielende Kinder herausgebracht, bloß nicht an den Tonnen zu
lecken. Und die Entsorgungsexperten der Stadt wurden aufgefordert, ihre dicken Handschuhe doch bitte bei ihrer Vesper
(regelmäßig von 9 bis ca. 15 Uhr) auszuziehen.
Ansonsten geht das kunterbunt einher. Es gibt multicolorierte Abfallbehälter mit einem sonderbaren System: In den Grünen liegen
neben Speiseresten der Haute Cuisine auch Papier und schwarze Tüten. In den Blauen, extra für Kartons und papierartige
Substanzen, tummeln sich Blechdosen, Küchenabfälle und schwarze Tüten. In den grauen sind neben den schwarzen Tüten auch
ein paar gelbe und rote und in den Orangenen Eimern Kartons, Metall, und ... schwarze Säcke.
Die Müllabfuhr ist fleißig, morgens früh bis lange nach Mitternacht krachen die schweren Kunststoffbehältnisse vom Müllwagen
auf die Straße. Und sie sind wenigstens ehrlicher als unsereins. Ein Müllauto presst alle kolorierten Tonnen in dasselbe Loch! Bei
uns in Deutschland fahren viele unterschiedlich bunte Laster (pro Tonne einer) und sie kippen es erst in der
Müllverbrennungsanlage zusammen. Die Pariser Lösung scheint mir erheblich preiswerter.
Das gleiche Hygiene-Szenario gibt es im Büro. Wir haben vier verschiedene Eimer, einer für Restmüll (ordures seulement), einer
nur für Papier, einer für Plastik und einer für keine Ahnung was. Der lustige kleine braune Mann in seiner lustigen kleinen braunen
Uniform leert am Abend jedes Behältnis in einen andersfarbigen Sack. Seit meinem Faible für Verschwörungstheorien wecken
diese Leute bei mir die Neugier. Ich folge ihm und erwische ihn, wie er im Nachbarbüro die farbigen Säcke vertauscht. Nun landet
das Papier im gelben und der Restmüll im grünen Sack. Aha. In seinem Kämmerchen neben der Herrentoilette schüttet er
gewissenhaft jeden einzelnen Sack in einen roten Sack und bindet diesen mit einer Müllsackzubindemaschine zu. Den Roten
wiederum stopft er pfeifend in einen riesigen großen Schwarzen. Und dann glättet er seine gebrauchten bunten Beutel an dem
Wägelchen, um damit weitere Büros abzuklappern.
Immerhin, man ist ja noch am Anfang. Eines Tages wird es ihnen gelingen, das sortierte Zeugs getrennt in bunten Lastern über die
Grenze nach Deutschland zu karren und in unseren Müllverbrennungsanlagen zu verfeuern. Ökologisch korrekt, da für jede Farbe
eine eigene Ofentür vorgesehen ist und wo dahinter dann allerdings nur eine einzige gemeinsame Rutsche sich ins Feuer senkt.
Nun denn, auf in das Jahr 2012, das bereits zu einem Zwölftel vorüber ist. Leute, in elf Monaten ist Weihnachten vorbei. Habt ihr
schon alle Geschenke?
Denkt an meine Worte: Der Heilige Abend ist näher, als man glaubt, auch wenn er nach dem 21.12.2012 liegt.