© Jonathan Philippi 2014
Paris im Mai 2011
Alte Bekannte ...
Alles neu macht der Mai ...
Genau am 3. Mai lag mein Weltbild in Scherben. Die mühsam zusammengeklauten Argumente, dass Deutsche und Franzosen eine
gemeinsame Seele haben, wurde abgrundtief gestört. Die Kluft zwischen uns ist größer, als ich es zugeben mochte. Was ist
geschehen?
Die U-Bahn-Station Strasbourg - St. Denis ist wegen Umbauarbeiten vom 18. Februar bis zum 3. Mai gesperrt. Obwohl ich nie
jemanden gesehen habe, der dort arbeitet, wurde der Bahnhof tatsächlich an diesem Tag eröffnet. Der Bahnsteig ist sauber geputzt,
blank gewienert, taghell und voll Leute. Ich muss neidvoll anerkennen, dass Pariser planen können und sich an Zeitpläne halten.
Nicht so wie bundesrepublikanische Hoch-, Tief-, Quer- und Flachbauämter. Hier wäre eine Verzögerung von mindestens einem
Monat notwendig geworden. Aber nein, die Pariser sind präzise, zuverlässig und sicher. Das wäre uns nicht passiert. Meine
Weltanschauung ist vernichtet, meine Seele liegt blamiert am Boden. Welch eine Schmach.
Da bleibt mir nichts, als meinem Clochard zwei Euro zu geben und ihm zu berichten, wie entspannt mein Wochenende war. Er hört
geduldig zu. Bedankt sich und verabschiedet mich wie einen alten Freund, schüttelt aber verständnislos den Kopf. Na gut, dann
muss ich meine Last eben an der Kaffeetheke des Bistros um die Ecke loswerden, aber die verstehen kein Deutsch. Und da fällt mir
ein, mein Clochard auch nicht. Wie peinlich. Das ist kein guter Start in die Woche. Nun denn, hoffen wir, dass wenigsten die
Meetings Abwechslung und Unterhaltung bieten.
Der Tag verfliegt wie irre. Zu vorgerückter Stunde pendele ich zum Hotel, bereit, meine Niederlage an Strasbourg einzugestehen.
Doch mit einem Schlag ist alles wieder in Ordnung. Alles ist gut. Mit Begeisterung lese ich, dass der Ausbau der Station sich
verzögert, vom 16. Mai bis 18. August. Na bitte, es geht doch. Auf Behörden ist auch hier Verlass. Das tut gut zu wissen.
Meine Hauptbeschäftigung gehört meinem Lieblingsthema: Leute angucken. Und ich sage euch, die Typen in der Metro suchen
weltweit ihresgleichen. Nichts ist so unterschiedlich wie hier, nicht mal die Talkrunde bei Blassberg (oder wie heißt dieser fahle
Typ, der immer dieselben einlädt, weil die so schönen Krawall machen)? Egal, schaut sich sowieso keiner an. - Sagte ich schon,
dass ich hier nur das Zweite empfange? Ja? Na gut.
Ich suche Gesichter, die ich kenne und führe Buch darüber. Erstaunlicherweise ist der Verschiedenartigkeit der Gene Grenzen
gesetzt. Ich sehe wenigstens zwei Gorbatschows und beginne mit meiner Strichliste.
Naomi Cambells finde ich gleich zu Dutzenden. Die dunkelhäutigen jungen Damen sehen verboten hübsch aus. Da fällt mir ein,
habe ich schon mal berichtet, dass Metrobenutzer wie bekloppt mit ihren Handys hantieren? Nein? Also das muss ich erzählen. In
einem Metrowagen wird so viel telefoniert wie nicht Mal auf der Straße. Nahezu jeder hat sein Telefon am Ohr oder tippt. Ja, und
da steht mir diese attraktive afrikanische Lady mit den langen Fingernägeln gegenüber. Vier Zentimeter mindestens, echt wahr!
Richtig bunt angemalt, also die Nägel, nicht die Lady! Ein schwarzer und roter Streifen kreuzen sich, und in der Mitte ist ein
goldener Punkt. Und damit versucht sie, auf einem berührungsempfindlichen Bildschirm über einer winzigen virtuellen Tastatur
eine E-Mail zu verfassen. Natürlich haut sie jeden Buchstaben daneben. Der Daumen ist fest auf der Löschtaste und rückt wie die
Springprozession von Echternach nach jeweils drei Schritten vor zwei zurück. Aber sie gibt nicht auf.
Ein älterer Herr dagegen stellt sich geschickter sein. Er hat einen schmalen Eingabestift so á la Nintendo DS. Klappt super, bis er
ihn verliert und auf allen Vieren das kleine Teil sucht, das unter den Sitzen dahinrollt. Sein Pokerspiel ist verloren, schade.
Aber so ein Stift ist schon praktisch, denke ich. Wäre nicht schlecht, so einen zu haben. Der alte Knacker gibt nicht auf. Er sucht in
jeder Ecke, unter jedem verdammten Stück. Doch er muss aussteigen. Welch ein Glück für mich. Als die Türen sich schließen,
kann ich endlich meinen Fuß von dem Stift nehmen und meine Beute gemütlich hochheben. Er ist zerbrochen. Jammerschade.
Dann halt nicht.
Da fällt mir ein, als ich im Büro gefragt habe, wer ein gewisser Monsieur xxx sei, wurde mir gesagt: „Der sitzt im Großraumbüro.“
„Na super! Danke, das ist so, als wäre die Antwort: Er arbeitet in Paris. Geht es etwas präziser, bitte?“
„Ach so, der ist so typisch französisch, du wirst ihn sofort erkennen!“ Und das tat ich unter 42 Leuten!!!
Ich vermute, dass daher junge Kerle versuchen, sich krampfhaft dermaßen als Unikat zu verkleiden. Offenbar wollen sie der
Uniformität der geringen Genkomination durch Frisuren ausweichen. Und gerade deshalb tauchen sie gleich zu mehreren auf und
sind auf ihre Art schon wieder eine unverkennbare Truppe. Adieu, Individualität. Bei einem glaubt man, seine Haare wären die
Flügel eines Insekts, so akkurat hüpft die Haarpracht auf und ab, als er rennt, um den Waggon zu erreichen. Aber hätte ich gelacht,
wäre ich wahrscheinlich mit dem Leben nicht davongekommen. Indische und afrikanische Männer kann ich eh nicht
auseinanderhalten. Die Frauen kennzeichnen sich durch bunte Tücher und noch buntere Fingernägel, damit man sie mit ihrem
richtigen Namen ansprechen kann! Bundesrepublikaner definieren sich schon eindeutig auf dem Bahnsteig, keine Ahnung, wieso.
Amerikaner verraten sich dadurch, dass sie ständig plappern, so als dürften sie zu Hause nichts sagen, ohne sofort verhaftet zu
werden. Bei Japaner ist mir eine Unterscheidung nur zwischen Mann und Frau möglich, das ist aber egal, sind ja keine da.
Niederländer sind zuhauf als Gast an der Seine, sie sprechen leise, flüstern ganz so, als ob sie niemand erkennen dürfe. Man könnte
sie ja für Deutsche halten. Ganz anders der Tourist aus Italien. Er quatsch munter jeden an und muss noch lernen, dass kein
Schwein außerhalb der Grenzen seiner Heimat ihn versteht.
Dann schon eher russisch, aber die fahren nicht Metro, die haben ihre dicken Karossen und steigen nur vor den exklusiven
Boutiquen aus.
Und überhaupt, die Sprachen. Untereinander schallt es wie seinerzeit beim Turmbau zu Babel, also mehr hinterher, wenn die Bibel
stimmt. Aber hier unterhalten tut man sich in ... Englisch. Das ist absolut kein Wunder. In Paris gibt es mehr Kinos mit
englischsprachigen Filmen als in New York. Am Kiosk ist die „Harald Tribune“ noch vor der „France Soir“ und „Die Welt“ wartet
abgeschlagen am Boden, wenn man den Ständer einmal herumschleudert.
Ich setzte meine Liste mit den bekannten Gesichtern fort:
Es gibt mehrere Barak Obamas, mindestens ein gutes Dutzend Sarkozies, aber keine Carla Bruni. Und ausgerechnet die soll jetzt
mit Zwillingen schwanger sein. Mein Gott, dann hüpfen noch mehr davon rum.
Jean Paul Belmondo: 3 (natürlich, als er noch keine weißen Haare hatte)
Gerhard Schröder: 2 (Oups)
Bekannte aus meinem Freundekreis: 19 (echt wahr, da fragt ich mich bei Euch Mannsbildern, ob ihr nicht mal allein in Paris wart,
vor langer Zeit!)
Merkels: 0 (oh ja, diese Flunsch ist tatsächlich einmalig)
Aber dafür 4 Gregor Gysis: (Wau, der hatte doch kaum eine Chance, sich hier zu vermehren, dem Alter der Leute nach, oder?)
Sidney Portier: 3 und Charlton Heeston: 2 (Gut, das sind nicht unbedingt Franzosen, aber was kann ich dafür, wenn ihre Konterfeis
hier rumlaufen?)
Karl Lagerfeld: 1
Jochen Senf, den pensionierten Saarbrücker Tatortkommissar: 1 (ich glaube aber, das war er wirklich!)
Typische deutsche blonde Magazinmoderatorin: 245 (die sehen ja auch alle gleich aus!)
Trottel, der eine Station zu weit gefahren ist, weil er sich dauernd Notizen machen muss: 1!
In diesem Sinne
schlaft gut, wo immer Ihr seid.