© Jonathan Philippi 2014
Paris im März 2011 (2)
Innovation und scharfe Bremsen
Jetzt ist es amtlich, ich werde beruflich eine geraume Zeit in Paris arbeiten. Immerhin ist der Zug in weniger als 2 Stunden an der Seine, das
Hotel ist gleich neben dem Bahnhof und heißt „Terminus“. Nomen est Omen.
Ich fahre erst um 8 los statt um sechs und bin freitags um 19 Uhr zurück statt um halb neun. Insofern habe ich gewonnen.
In den Gedärmen der Landeshauptstadt verbringe ich im Grunde nur eine recht kurze Strecke mit der Metro. Wäre ich ironisch oder gar
sarkastisch, würde ich schreiben, dass ich beim Umsteigen mehr Stufen und Wege laufen müsse, als die Bahn selbst zurücklegt. In der Tat sieht
man oft durch die Tunnel von einem Bahnhof zum nächsten. Aber meine Schilderungen sind selbstverständlich realistischer Journalismus,
Übertreibungen liegen mir absolut gar nicht. Niemals!
Die fünf Stationen inklusive Anschluss reichen dennoch, um mir jeden Tag zweimal eine Nase voll Untergrund zu ziehen. Noch ist mir der
Muskelkater erspart geblieben, auch wenn ich mich mehr und mehr wie ein Pariser verhalte. Heute habe ich zum ersten Mal einen Mann auf der
Treppe überholt. Und zwar treppauf.
Gut, der Alte lief an Krücken, aber es ist ein Anfang.
Mir bleibt ob der wenigen Zeit auch keine Gelegenheit, meinen MP3 Player auszupacken oder gar ein Buch zu lesen. So vertreibe ich mir die
Zeit mit messerscharfen Beobachtungen und einem Typregister, davon später mehr.
Kommen wir also auf das Kernstück meiner Observation zurück, der eigentlichen Metro:
In den Zügen hängen Reklametafeln: „Dank PAP habe ich 29.700 Euro gespart!“
Das klingt vielversprechend. Ich nähere mich und lese, dass diese Publikation eine Art Findling auf pariserisch ist. Die lächelnde Dame hat ein
Appartment gekauft, da steht für 780.000 Euro - mit sagenhaften 40 Quadratmeter, vermute ich - und dank dieser einzigartigen Zeitschrift einen
Teil der Maklergebühr eingespart. Bei einer 5%igen Verzinsung über die Darlehnslaufzeit von geschätzten 300 Jahren bringt das rein
rechnerisch eine enorme Ersparnis. Wau. Da lohnt es sich ja direkt, Wohnungen über „Particulier a Particulier“ (PAP) zu kaufen. So um die
30.000 Euro kann jeder gebrauchen. Denn das ist beispielsweise der Preis für einen Autostellplatz in einer Tiefgarage in der Rue 4. Septembre.
Liegt wahrscheinlich nicht dort, wo man wohnt, aber es gibt ja die Metro ... und, wie das Plakat des Maklers ausweist: Genau am Ausgang ist
eine Station die auch noch so wie die Straße heißt! Genial.
Im Grunde unseres Herzen sind wir Deutschen und der südwestliche Anrainerstaat nicht weit auseinander. Die Haltestelle St. Denis Strassbourg
wird seit dem 7. Februar umgebaut und ist daher geschlossen. Die Linie 4 fährt extra langsam hindurch, damit wir Gäste die Baustelle
bewundern können. Von Anfang an liegen Paletten voller Fliesenklebersäcke und Estrich, Kacheln und Baumaterial auf den Bahnsteigen rum.
Nur habe ich noch nie jemanden schaffen gesehen. Der Bahnhof ist dunkel, morgens, mittags, abends. Das immerhin haben wir also
gemeinsam. Wenn irgendwo Arbeit ist, ist keiner da, der sie erledigt.
Im Allgemeinen gilt unser Nachbar auch nicht als innovativ. Mir ist beispielsweise keine einzige, weltbewegende Erfindung bekannt, die je aus
der Grande Nation gekommen wäre. Selbst die Höhlenmenschen in der Grotte Chauvet an der Ardèche haben lieber gemalt, anstatt Feuer zu
bändigen oder das Rad zu konstruieren. Der Cro-Magnon- Franzose war demnach bereits gentechnisch mehr ein Genussmensch. Wobei ich
behaupte, dass die berühmte frankophile Küche in erster Linie von Unfällen geprägt ist: Glasierte Entenleber an trockenem Zitronengras mit
Möhrenraspelschalenkompott klingt in meinen feinschmeckerischen Ohren nach verkochten Resten von gestern und sieht auch so aus. Doch die
Kartoffel ist prägend für den Gourmet. (Kommt ja auch über Deutschland aus den USA!) Da kann man nicht viel verkehrt machen: ist sie fest,
sind es Salzkartoffeln, zerfließen sie, nennt man es Püree, brennt es an, reicht man je nach Konsistenz Bratkartoffeln oder Kroketten. Mit
knusprigen Ecken nennt man die Stäbchen Pommes frites, wobei das englische Wort „French Fries“ irreführend ist. Die frittierten Äpfel
stammen aus Belgien! Aber an der Auflösung dieses Irrtums ist die französische Seele nicht interessiert. Endlich mal was Tolles und dann
dieser Name!
Wird das Gestampfe aber gar zu breiig, hängt ein Schild: „Soup de Pommes de terres“ am Tiegel und ehrlich gesagt, essen möchte ich das nicht.
Meist wird es mit Lorbeer verwürzt. (Kommt ja auch aus Italien) und das mag ich nicht so besonders. Das Gemüse in der Kantine sieht auch
nicht toll aus und der Geschmack erinnert mich an kleine Säckchen, die meine Großmutter stets zwischen ihre Wäsche legte, um die Motten zu
vertreiben.
Drum gibt es anstelle der klassischen Restaurants auch mehr und mehr fast Food-Tempel und man steht gerne Schlange, um etwas Ordentliches
zu genießen. Ob McDonalds oder Subways, Burgerking oder Kentucky fried Chicken. Meist aber sind es Pizzerien oder Chinesen, Inder,
Balinesen, Rumänen, Thailänder, Afrikaner, Spanier, nur kaum Franzosen. Aber nicht immer kann man die Nationalität gleich zu Beginn
ausmachen, jedoch hilft die Preistafel sofort weiter und schafft Klarheit: Kostet ein Mittagsmenü über 20 Euro, ist es ein französischer
Gourmettempel, den nur Touristen besuchen, kein Einheimischer würde so viel für ein Mittagessen ausgeben. Für die Hälfte tun es die Asiaten
und Araber (inklusive dem unvermeidlichen Kaffee). Und genau dazwischen liegt die Wahrheit: 12,85, ein Getränk, (Dose Cola), ein Nachtisch
(Bauer-Jogurt, echt wahr!) und eine warme Mahlzeit. Heute zu empfehlen: Risotto Poulet. Klingt klasse ist aber gewöhnliches Hähnchenragout
mit Reis. Obenauf: Lorbeer! Wenigstens die Cola ist echt. Und der Lorbeer ist zu meinem Glück nicht mitgekocht.
Um die Ecke bietet ein Ökorestaurant seine Speisen feil. Alles Natur, rein biologisch und gesund. Dummerweise in so viel Plastik abgepackt,
dass man es kaum glauben möchte: Das Cellophan um ein Biorosinenbrot mit Camembert (nennt sich Adono) ist ausgepackt so groß wie eine
Bildzeitung. Zur Aludose Biolimo spendiert das “Exlit“ einen durchsichtigen Plastikbecher. Das Hühnchen in Blätterteig wird auf einem
Pappteller serviert (immerhin) aber mit Plastikbesteck und es gibt gleich fünf Servietten dazu. Überhaupt nimmt man sich hier die Servietten
nicht selbst. Man erhält sie zusammen mit der Rechnung. Das schult ungemein die Bewegungskoordination: Kassenzettel, Serviette und
Restgeld in einer, das Tablett in der anderen Hand und den Geldbeutel zwischen den Zähnen wühlt man sich durch die Massen, um auf einem
Plastikstuhl an einem Plastiktisch Platz zu nehmen. Öko auf Französisch. Geht auch.
Heute Abend geht es in die Metro - es ist wie üblich spät, so gegen halb zehn - und ich bin auf dem Bahnsteig ziemlich allein. Außer mir warten
noch 10 Fahrgäste. Wir sitzen alle auf den Stühlen, die fest an der Wand angeschraubt sind. Die LED-Lämpchen der Anzeigetafeln spinnen. Sie
zeigen, dass der nächste Zug in 8 Minuten käme, um flugs darauf auf vier zu springen und sich auf sechs zu erhöhen, um letztendlich wieder bei
acht zu landen.
Eine Durchsage hallt über unsere Köpfe. Ich glaube, mich verhört zu haben. Sie wird in Englisch wiederholt, aber da rattert die Bahn gegenüber
herein und nix ist mit verstehen. Dann dröhnt es in Japanisch und schließlich in Deutsch: „Bitte seien Sie beim Gebrauch von MP3-Spielern und
Mobiltelefonen vorsichtig.“ Ich habe also richtig verstanden.
Ich sehe mich um. Die übrigen Wartenden haben entweder einen Knopf im Ohr oder ein Handy an der Backe. Immerhin sind wir gewarnt
worden. Die Anzeige blinkt und schon ist die Bahn da, in weniger als zwei Minuten Wartezeit.
Ich befürchte, ich bin etwas vom Thema abgekommen. Im Grunde wollte ich ja etwas über den Erfindungsgeist der Nachbarnation schreiben.
Ach ja, Innovation. Also die Französen kupfern alles ab, aber selbst auf die Reihe bringen sie in der Tat wenig. Wenn jedoch was gut ist, wird
es sofort akzeptiert, verbessert und genutzt, auch wenn es aus Deutschland stammt, muss ja nicht jeder wissen. Das war beim Fahrrad und beim
Auto nicht anders als beim Flugzeug. Und nun das: Beim Stehlen der Blaupausen eines Kinderdreirades aus einer der innovativsten
sauerländischen Schmieden haben sie es seitenverkehrt kopiert. Aber die Ingenieure haben sie sich das komplizierte Ding angesehen und: Bien
sur, haste de nicht gesehen, umfunktioniert in ein Motorrad. Nur, dass die beiden Reifen nebeneinander vorne sind, unter dem Lenker und das
eine Rad hinten. Die Dinger liegen affenstark in der Kurve und kommen allenthalben aus jeder Ecke geschossen.
Ist sicher teurer, zwei Räder auf einer Achse zu steuern als eins. BMW hatte so was mal, allerdings mit einer zweirädrigen Hinterachse. Nun ja,
offenbar ist es keinem aufgefallen.
Am Morgen drängen sich Millionen von Pendlern aus dem Gare l‘est in die Metro. Wie Heuschreckenschwärme fallen sie über die
Eingangsautomaten her. Trauben von Menschen bilden sich und ich erlaube mir, erst eine Runde durch die Einkaufspassage zu tätigen, bis die
Horde abgezogen ist. Jetzt mit der U-Bahn zu fahren, ist glatter Selbstmord. 9.15 Uhr ist keine gute Zeit in Paris: Rushhour! Da sitzt der
Deutsche schon beim vierten Frühstück. Ich suche mir einen Weg zu den Automaten, stecke mein weißes Metroticket ein, lasse es entwerten,
entnehme es und presse die Barriere vor mir auf. Geschafft. Nun zur „4“ nach Port d‘Orleans. Milliarden Leute stürmen mir entgegen und ich
muss an der Seite gehen, sonst werde ich abgedrängt und in die falsche Richtung geschoben, gnadenlos verschleppt und bin für ewig auf der
Suche nach dem richtigen Ausgang. Dann lieber an der Wand entlang, an der der Kalk abblättert und mich der typische Duft so unangenehm
umschwirrt. Wenn ich mir die Mauer und die Pfützen darunter so betrachte, könnte die Gegenrichtung durchaus auch Abenteuer versprechen.
Dann reißt der Strom der Wanderarbeiter urplötzlich ab und ich habe die ganze Breite für mich allein. Alles klar, gerade hat eine Metro ihren
Inhalt ausgespien. Der Bahnsteig quillt über, so gerappelt voll, dass ich kaum Luft bekomme. An ein Durchdrängen nach vorne ist nicht zu
denken. Eine Metro rauscht heran und ich ziehe mich mich in die Sicherheit hinter einem Verkaufsautomaten zurück. Wenn die Masse der
Herausströmenden auf die der Hineinströmenden trifft, muss es donnern und knallen. Aber erstaunlicherweise geht alles ohne allzu viele
Verluste von Mensch und Tier. Verblüfft beobachte ich, wie der Bahnsteig sich vollständig entleert. Und plötzlich stehe ich ganz einsam und
klein auf dem total freien Bahnhof!
Die nächste Metro kommt in zwei Minuten. Ich schlendere nach vorne. Ha, das geschieht ihnen recht, drängen und drücken und der folgende
Zug wird völlig frei sein und nur für mich fahren. Was sich anschließend vor meinen Augen vollzieht, wäre eine perfekte Saalwette für die
anstehende ewige Abschiedstournee eines großen pensionierten Gummibärchens: „Wetten, dass es den Parisern nicht gelingt, innerhalb von 67
Sekunden einen menschenleeren U-Bahnhof so zu bevölkern, dass man sich nicht mehr drehen kann und keine Luft bekommt?“
Der goldgelockte Moderator hält natürlich dagegen und ich sehe ihn schon mit zerkratztem Gesicht und geschundenem Leib in einem
Vorortkrankenhaus liegen, weil er als Wetteinsatz seinen lahmen Zoten dem qualitätsbewussten Metrovolk präsentieren musste.
Ich ergattere ein zwanzigquadratzentimeter Plätzchen, die Tür quetscht mich ein und ich lehne mich nach Atmen ringend an. Geschafft. Puh. An
der Station „Chateau d‘Eau“ wird es brenzlig. Ich an der Tür und ein ganzer Pulk von grimmigen Männern und Frauen, die ausgerechnet hier
aussteigen müssen. Ich habe keine Wahl. Ich werde nach außen geschoben, muss der rohen Gewalt weichen, will wieder rein und der Zug ist
weg!
Mist!
Also auf den Folgenden warten. Der kommt prompt, keine 30 Sekunden später. Und ... alles leer. Na bitte. Es geht doch!
Wie üblich bewundern wir die Fortschritte der Baustelle an der Station St. Denis Strassbourg, genauer, dass nun noch mehr Paletten rum stehen
und alles von einem undefinierbaren Staub überzogen ist. Menschen oder Arbeiter sehen wir nicht. Der weitere Umstieg ist komplikationslos
und ich erreiche meinen Arbeitsplatz bei herrlichem Sonnenschein. An der Börse mache ich einen kleinen Schlenker nach rechts, denn die
ganze Straße ist mit Lastern blockiert. Ich entdecke einen Supermarkt und muss feststellen, dass das Trinkwasser hier 19 Cent kostet und keinen
Euro zwanzig wie am Gare. Außerdem gibt es frisches Obst und wie erwartet, ist das Weinregal besser sortiert als so mancher
Delikatessenladen bei uns zu Hause. Na denn. Geöffnet von 8 bis Mitternacht. Das muss man wissen, das sind die Hinweise, die das Überleben
sichern.
Am Abend bin ich völlig fertig. Ich überhole meinen zweiten Pariser Ureinwohner auf der Treppe, diesmal abwärts und renne zur Metro.
Gerade schaffe ich es noch. Ich muss meinen Rucksack abnehmen und will seine Laschen schließen, als der Zug anfährt und sofort abbremst. In
null Komma drei Sekunden auf nur 32 Zentimetern kommt der komplette Wagentross zum Stillstand. Also der Zug ja, aber nicht wir Fahrgäste.
Wir purzeln übereinander und ich lande mit meiner Nase genau zwischen den zwei Aufprallkissen einer Wasserstoffperoxyd blondierten
Afrikanerin. Mann, wie peinlich. Ich ziehe mühsam meinen Kopf aus der weichen Presse und murmele: „Entschuldigen Sie bitte, Madame!“
„Pas de Problème, Monsieur!“, säuselt es zurück in einem so tiefen Bass, dass selbst Gunter Emmerlich es nicht schaffen würde, ihn zu
überbieten. Hitze steigt in meine Wangen und ich sehe bestimmt aus wie Schneewittchens Apfel. Nach eingehender Untersuchung muss ich
gestehen, dass ich keine Chance hatte, die Wahrheit zu erkennen. Der Typ zwinkert mir zu. Er trägt ein todschickes, kanariengelbes enges
Kostüm, eine Federboa und seine Haare sind sicher eine Perücke. Erneut blinzelt er und zieht seine Zunge über die Lippen. Es ist aber auch eine
verdammt trockene Luft hier unten. „Bien venue à Paris!“, brummt er und verlässt mich am Sentier. Er stöckelt so gekonnt mit den hohen
Absätzen über die den Bahnsteig, dass mir klar wird, warum Bruce Flanell (oder wie der heißt) schwul geworden ist.
Mann. Was für ein Brummer.
Nachdem wir Übrigen uns sortiert haben und die durch die Gegend geflogenen Handys alle ihren Besitzer gefunden haben, muss ich schon
aussteigen. Zeit ins Hotel zu gehen und die Ereignisse dieser Woche niederzuschreiben.
Ah, ich liebe diese Stadt immer mehr.
Bon nuit oder Bon Jour, wo immer Ihr Euch aufhalten mögt.