© Jonathan Philippi 2014
Paris im Februar 2011
Fernsehen und Romantik
Ah Paris,
die Stadt der Liebe. Und schon wieder bin ich, treue Freunde, an der Seine: im Matsch und Regen, im Vorfrühling bei 17 Grad an
den Tischen der Bistros auf den Grande Boulevards. Obwohl, es war knapp gewesen. Der Zug hatte eine saftige Verspätung (130
Minuten). Und dabei ich bin extra vor 6 Uhr aufgestanden, hab das Taxi für um 7 bestellt und war keine halbe Stunde später am
global bedeutendsten Zentrum der Welt: dem Saarbrücker Eurobahnhof.
Tja, da hieß es erst mal warten. Und das wesentliche Schmuckstück saarländischer Weltpolitik („Wir sind das Herz dieser
Region“), das Aushängeschild kleinprovinzieller Lokalpolitiker, zeigt sich als weltoffen. Genauer, als völlig offen. Es gibt keinen
geschlossenen, warmen Warteraum. So vertreiben wir uns die Zeit im zugigen Stehcafé. (Verstanden? Bahnhof - zugig! Ach, den
Witz habe ich schon mal gebracht, sorry). Auf Dauer ist das recht langweilig und wir Reisende wechseln in den „Fritz“. Dort kostet
der Espresso nur einsfuffzig, dafür wird man mit SR3 und deutschem Liedgut aus der Retorte bestraft. Die Ansagen pendeln
zwischen 60, 90, dann 80 und dann über 90 Minuten Verspätung. Vorsichtshalber stellen wir uns alle gegen halb zehn auf den
Bahnsteig.
Der Zug wird angekündigt: „Der ICE aus Paris nach Paris wird in einigen Minuten auf Gleis 12 zum Einsteigen bereitgestellt.“
„Das muss ein TGV sein, der aus Paris kommt und wieder zurückfährt“, gibt ein erfahrener Bahngast kund. „Bei der DB wäre das
nicht passiert!“
Ich denke an das Chaos der vergangenen Tage und sinnieren darüber, wie sachkundig dieser Herr wohl ist. Immerhin kommt der
Zug doch. Es ist ein ICE. Gleich nach dem Hinsetzen erhalte ich einen vorformulierten Beschwerdebrief. „Meine Rechte als
Fahrgast!“ Da der Zug mehr als 120 Minuten Verspätung habe, könne ich über das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die
Hälfte des Fahrpreises einklagen. Mit einem Lächeln erklärt man mir, dass es im seltenen Fall eines Erfolges meiner Klage gegen
den bundesdeutschen Staat als Eigentümer einen Gutschein von ca. 34 Euro gäbe, den ich innerhalb eines Jahres einlösen könne.
Neben mir sitzt ein versierter Anwalt. Er zückt schon einen Block und macht sich eifrig Notizen.
Ich kenne diesen Blick, wenn das Eurozeichen eine Symbiose mit dem Dollar eingeht. Er versucht, auch mich umgehend von den
Vorzügen einer Sammelklage zu überzeugen. Im Erfolgsfall wären mir ungefähr 25 Euro sicher, aber ich müsste mich um nichts
kümmern. Die Gebühren würde meine Rechtsschutzversicherung übernehmen und sollte er gewinnen, wovon er fest ausgeht, wäre
sowieso alles gratis. Vor allem aber die Vorteile des medialen Echos beeindrucken gewaltig: Bildzeitung, Plassberg, Stern-TV,
Illner und Maischberger, sagenhaft. Ich verspreche, es mir zu überlegen. Das Formular ist zwei Seiten lang, bunt und rosa mit
Durchschlag.
Um 12.15 erreichen wir nach einer holprigen und wackeligen Fahrt Paris. Dort verteilen freundliche Hostessen Umschläge mit
einem Beschwerdebrief an die SNCF. Das Ding ist so groß wie eine Postkarte: Anschrift, Kontonummer, Zugnummer, Datum und
einem offiziellen Stempel in der Rubrik „> 120 min“. Fertig. Im Gegensatz zur Deutschen Bahn verzichten die Franzosen auf eine
Einkommensteuererklärung, eine Kopie der Beglaubigung des letzten Hafturlaubes, einer Geburtsurkunde und dem Nachweis,
einen Deutschtest bestanden zu haben.
Es geht auch einfacher. Zudem verspricht die SNCF 66 %, die DB nur 50%. Mal sehen, ob ich da sogar noch was rausschlagen
kann.
Am Gare de L‘Est geht es jetzt blitzschnell. Ich habe noch Fahrkarten für die Metro und brauche keine neuen. Flinken Fußes eile
ich hochnäsig an den Verkaufsstellen vorbei und natürlich sind alle vier Automaten frei und an den fünf Schaltern steht auch kein
Mensch an. Ich bin versucht, ein Carnet von 10 Metroscheinen zu erstehen, allein deshalb, weil ich mal sofort an die Reihe käme.
Doch ich kann mich zügeln.
Keine viertel Stunde später bin ich am Einsatzort angekommen.
Das Hotel liegt nur 10 Minuten zu Fuß und ist gut erreichbar. Ein internationaler Name verheißt internationalen Standard. Ich darf
erfahren, wie der Gast sich in Hotels im Senegal, China oder in Rumänien fühlen darf. Das sind nämlich auch Destinationen der
Kette. Und dieses Ambiente haben sie mitten nach Paris gebracht, quasi eine multikulturelle Mixtur aller Eigenschaften. Mein
Zimmer liegt im 5. Stock und der Aufzug ist außer Betrieb. Ich darf den Fahrstuhl für das Personal nutzen und der fährt mich ohne
Zwischenstopp und ohne zu meckern genau bis in diese Etage. Präzision par excellance. Auch das gibt es noch in Frankreich.
Das Gebäude ist historisch, die Räume - wie inzwischen nicht anders erwartet - auch. Eine kräftige Mischung aus allen Epochen
und Stilen der Weltgeschichte. Die Tapete rollt sich wie in Russland von den Wänden, der Teppich ist eingetreten wie in Afrika,
aber sauber. Die Schranktüren klemmen wie in Indonesien und die Zimmertür rumst mit einem Knall ins Schloss wie in Paris. Fehlt
nur der Schimmel aus Deutschland. Aber, oh Wunder, es gibt Strom! Und dann kommt die Überraschung: Es gibt einen
supertollen, kostenlosen Nervenkitzel:
Der kleine Balkon ist abschüssig.
Er neigt sich deutlich zur Rue. Mein Unterbewusstsein registriert das sofort und meine Knie werden weich. Dieses Gefühl, auf
einer winzigen Terrasse im fünften Stück über einer belebten Straße zu stehen und zu denken, jede Sekunde könntest du abstürzen,
ist nicht mal mit Bungeespringen zu vergleichen. Herrlich und unbeschreiblich. Das Zittern in den Knien, das Kitzeln in den
Waden, das rasende Flattern um die Herzgegend. Da braucht es kein Vita Buerlecithin und kein Doppelherz!
Das Hotel wirbt mit dem Spruch: „Entspannen Sie sich vor ihrem Lieblingssender“. Über eine hypermoderne Benutzerführung am
Bildschirm kann ich meine Auswahl treffen:
Sprache: Deutsch. Nein, ich will keine Bezahlfilme. Aber das geht nicht so einfach, dieser Kanal schlägt immer wieder durch. Ich
schalte die Kiste aus und ein.
Nach einer unendlich langen Werbung, in welch tollem Hotel ich eingecheckt habe, kann ich endlich wählen: Sprache Deutsch.
Dann: Fernsehen und Radio. Cool: es läuft ein Actionfilm, leider in Englisch. Das macht stutzig. Ich bin auf dem Bezahlkanal
gelandet. Da kommt man nicht mehr raus. Ein riesiges Rechteck in der Mitte teilt mir fröhlich hüpfend mit, dass ich gefälligst die
Zimmernummer einzudrücken und zu bestätigen habe. Wenn ich zu dumm dazu wäre, würde der Computer das automatisch für
mich erledigen. Für 38 Euro könne ich diesen Film 24 Stunden am Stück hintereinander sehen. Ein verlockendes Angebot, aber ich
will nur fernsehen. Also erneut ausschalten und vorsichtig die Sprache wechseln. Dann gelingt es mir: „Kanäle nach Sprache“
wähle ich und anschließend: „Deutsch“. (Für Experten: die Ziffernreihefolge des Menüs ist: 5 - 4 - 5 - 8 - 2 - 6 - 1).
Die 1 steht für ZDF. Nicht mal das haben unsere Nachbarn kapiert. Allerdings gibt es auch nur einen Sender in meiner geliebten
Heimatsprache. Na ja. Merkwürdig ist ja nicht, dass Französisch und Englisch vor uns liegen, aber bei Arabisch (3) und Russisch
(4) werde ich schon aufmerksam. Wo bin ich bloß hingeraten? Aber das bin ich ja gewohnt. Immerhin. Ich hätte nie gedacht, dass
die Küstenwache und Aktenzeichen XY so spannend sein können. Außer der Miniloggia, natürlich, die einem das unendliche
Gefühl des unmittelbaren Absturzes näher bringt. Ist wirklich cool.
Das Bett ist groß, breit und weich. Ich freue mich darauf.
Mitten in der Nacht wird eine Kanone abgefeuert, eine heftige Explosion erschüttert das Haus. Ich sitze sofort senkrecht im Bett.
Ach was, schreiend springe ich auf. Zögernd gehe ich auf den schiefen Balkon zu. „So, jetzt liegt er unten!“, denke ich. Aber weder
ist das Fenster kaputt, noch fehlt ein Stück von einer Wand. Da, noch mal: „Kawumm!“ Dankbar, noch zu leben, bemerke ich, dass
es nur die Zimmertür zum Nachbarraum ist. Um 00.20 herrscht erst mal wieder Ruhe.
Ich versuche zu schlafen, aber es gelingt mir nicht, denn der Zimmernachbar beginnt zu sägen. Ich überlege, was man hier wohl mit
einem Fuchsschwanz nachts so anrichten kann. „Rütt ratt“ macht es und es quietscht ein wenig. Dann fällt mir der seltsame
Rhythmus auf. Nun auch noch ein Donnern an meine Zimmerwand: „Rütt Ratt Bumm bumm, rütt ratt bumm bumm“. So laut ist
nicht mal ein I-Pod im Großraumwagen der Bahn. Und die Dinger nerven schon gewaltig. Ich gehe ins Bad und lausche, ob es
vielleicht die Heizungsrohre sind. Aber die sind unschuldig, es gibt keine Heizung.
Ich werfe mich in mein Bett und staune. Ich kann dieselben Geräusche hervorbringen, ich wackelte etwas mit dem Hintern. Das
lose Bett quietscht und knallt gegen die Wand: „Rütt Ratt Bumm Bumm“ macht es jetzt auch bei mir. Begeistert steigere ich das
Tempo und komponiere einen Rapp. Aber um halb eins ist das nicht sehr ergiebig. Ich rutsche von der hohen Bettkante und knalle
auf den Boden. Reflexartig greife ich blindlings um mich und quetsche meine Hand am Nachtisch. Das tut weh.
Genau das ist auch im Nebenraum passiert. Ich höre eine Frau stöhnen. Sie muss große Schmerzen haben. Sie versucht offenbar,
ihre Hand zu befreien, denn jetzt macht es „rütt rütt rütt bumm bumm bumm!“ Ich überlege, ob ich ihr nicht helfen soll, aber dann
höre ich eine Männerstimme. Er wird sich um sie kümmern und tatsächlich, nach einem letzten Schrei wird es leise. Ich krabbele
getrost unter die Decke.
Scheinbar ist nebenan was zu Bruch gegangen. Die Frau besteht darauf, den Schaden sofort und in bar zu bezahlen. Ich höre
deutlich, dass der Mann nicht so denkt. Aber die Frau spricht von 150 Euro und schließlich möchte sie es auch augenblicklich dem
Portier in die Hand drücken. „Kabumm!“, macht die Tür um Viertel vor eins und dann kehrt endlich Friede ein. Ich bin bestrebt,
mich nur langsam und sachte im Bett umzudrehen. 150 Euro sind viel Geld für einen kaputten Nachttisch.
Am Morgen weckt mich ein Düsenflugzeug, das genau vor meinem schiefen Balkon landen will. Das darf ich nicht verpassen und
stürme auf die Terrasse. Wieder werden meine Knie weich und ich hoffe, dass wenigstens das Geländer hält, wenn der Beton unter
mir absackt. Ich klammere mich daran. Aber es ist nur die Müllabfuhr, die um sechs Uhr die Tonnen leert. Erleichtert lege ich mich
ins Bett. Nur eine Stunde später reißt mich der Wecker brutal aus dem Tiefschlaf. Erfrischt stehe ich auf und versuche, das
Morgenmagazin einzuschalten. Der Actionfilm von gestern läuft immer noch, erstaunlicherweise sogar exakt dieselbe Szene. Nach
nur dreimaligem Ausschalten ist es mir gelungen, die Ziffern in der richtigen Reihenfolge einzutasten. Ich habe sie mir notiert: 5 -
4 - 5 - 8 - 2 - 6 - 1. Nun bin ich wach.
Das Hotel bietet einen Wasserkocher und löslichen Kaffee auf einer Anrichte an. Ich bereite mir einen Espresso zu. Und dann wird
mit klar, dass Paris wirklich die Stadt der Liebe ist. Entzückt stelle ich fest, dass es zwar zwei Keramikbecher gibt, aber nur einen
Löffel. Wie romantisch! Ein neuer Tag kann beginnen. Auf geht‘s.
Salu