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Paris im Oktober / November 2011

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Wie viele große Werke der Weltliteratur beginnt auch dieses hier mit einer Rückblende: Juli 2011: Ich habe mich ja bereits ausführlich über die Zustände im Straßenverkehr in meiner Lieblingsstadt (nach Saarbrücken, versteht sich) ausgelassen, aber anscheinend nicht genug. Im Sommer wurde ich Zeuge folgender Begebenheit, der ich damals noch wenig Aufmerksamkeit schenkte, weil sie nur allzu selbstverständlich für die Metropole an der Seine erscheint. Ich stehe an einer Fußgängerampel und warte deutsch-typisch auf ein grünes Signallicht, welches mir andeutet, dass man nun relativ gefahrlos den Bürgersteig am gegenüberliegenden Ufer erreichen könne, wenn man flinken Fußes ist. Es bildet sich eine Autoschlange und natürlich ist der Überweg verstopft. Auf der Fahrbahn lauert ein Gefährt, das in grauer Vorzeit - als die Franzosen noch ihre wunderschönen Höhlen mit Graffitigeschmiere verhunzten - vermutlich einmal ein Citroën 2CV gewesen sein mag. Der Besitzer dieses Oldtimers hat sein Fahrzeug liebevoll umgestaltet. Plastikfolien anstelle der Seitenfenster und anstatt der Türen sind schiefe Holzplatten mit netten Applikationen versehen. Runde, silberne und rostbraune Metallverzierungen mit einem Schlitz in der Mitte umrahmen das wertvolle Tropenholz am Cassis. Neben mir drängt sich ein kleines braunes Männchen vorbei, hastet auf die Straße, obwohl diese eindeutig grün für die Fußgänger zeigt. Als schon zu diesem Zeitpunkt versiertem Parisbesucher ist mir völlig klar, dass die Kutsche oder was immer das sein mochte, noch zwei Meter nach vorne hüpfen würde, trotz Rot und sich mitten auf den Zebrastreifen schiebt. Schließlich geht es besagte zwei Meter voran, da kann man selbstverständlich keine Rücksicht auf Fußlahme nehmen. Und genau das geschieht und das Männchen prallt voll in die Seite. Die Tür aus Presspappe fällt ab und die schöne Nylonfolie flattert im Wind davon. Schamvoll halte ich mir die Ohren zu, denn so viele französische Schimpfworte in nur zehn Sekunden habe ich noch nie gehört. Das Männchen tritt gegen das Fahrgestell und vorne fällt auch noch ein Scheinwerfer ab. Der Fahrer schlüpft durch das Seitenfenster, denn die Tür klemmt und macht sich zum Kampf bereit. Dummerweise habe ich einen Termin und kann den Ausgang des Gefechts nicht verfolgen. Ich sehe nur noch, dass der PKW- Lenker es geschafft hat, sich aus seinem Gefährt zu befreien, während er gleichzeitig raucht und mit dem Handy telefoniert. Im August ist die Situation ähnlich. Ein Mann rennt voll in einen Radfahrer, der sich durch die Autos schlängelt, die brav an der roten Ampel mitten auf dem Zebrastreifen auf Grün lauern. Der Radler prallt gegen einen Lkw und es rappelt gewaltig im Karton. Der sportliche junge Mann richtet sich auf, aber der Angreifer ist verschwunden, wahrscheinlich bekam er meinen stillen Beifall noch mit. Der Biker setzt sich auf seinen Sattel und radelt fluchend weiter, trotz Rot, versteht sich. Im September schon wieder, gleich zwei Mal. Einmal rammt ein Kerl seine Sackkarre in einen Transporter, der so auf dem Fußgängerüberweg parkt, dass man die Straße nicht überqueren kann. Der immer stehende Autoverkehr harrt nämlich an der roten Ampel so, wie es hierzulande üblich ist. Es gibt keine Haltestriche. Also fährt man bis zur Hälfte in den Überlebensraum der Fußgänger. Und somit ist die rollende Blockade ein ernstes Hindernis für Kinderwagen, Rollstuhlfahrer und normal Gehende. Der Lieferwagen hat eine Schramme mehr, allerdings eine tiefe! Und dann knallt ein anderer Franzose gegen einen Motorradfahrer, weil dieser auch bei Rot einfach weiterfährt und wirft ihn samt seiner Karre um. (Dass es ein eingeborener Landsmann ist, beweist seine wortgewaltige Sammlung hiesiger Flüche, die ein Auswärtiger unmöglich so perfekt beherrschen kann). Und nun, im November, wenn die Boulevards von tanzenden Lichtern magisch erhellt glänzen, beobachte ich das erneut. Und dann merke ich es: Der Attentäter hat ein Handy am Ohr, spricht kurz ein „Okay!“ hinein und rennt los. Bei Grün, wie es sich gehört, und boxt einen Rowdy aus dem Sattel seines Fahrrades. Es sind immer kleine braune Männchen in kleinen braunen Uniformen, vorwiegend mit Paketen, Sackkarren oder Handwagen bewaffnet. Sie jagen unentwegt Rotsünder und Verkehrsrüpel. Sie rufen sich gegenseitig an, wo wer gerade losprescht und an der nächsten Ampel wird der Bösewicht gestellt. Als Anhänger jeder noch so hanebüchenen Verschwörungstheorie beginne ich, zu recherchieren. Und tatsächlich: Nach einer Verfolgungsjagd in Zeitlupe zu Fuß und einer kurzen Wartezeit schleiche ich mich heimlich hinter dem kleinen braunen Männchen in seiner kleinen braunen Uniform her. Die Organisation ist enttarnt. Sie hat einen Namen, der auf den Einsatzwagen groß vermerkt ist: UPS. In Paris gilt ein eisernes Verkehrsgesetz: Recht hat derm der sich bewegt. Wer steht oder nicht reagiert, hat einfach nur Pech gehabt! Und dass Pariser nicht viel voneinander halten, beweist ein trauriges Beispiel. An der Straßenecke zur Rue Richelieu, in der sich mein Büro befindet, stauen sich die Autos. Da wir zu Fuß unterwegs sind, überholen wir die hupende Meute problemlos. Mitten auf der Kreuzung hat sich ein Unfall ereignet. Ein Motorrad liegt auf der Seite. Der Krankenwagen kämpft sich mühsam nach vorne. Ein Rettungssanitäter springt auf die Straße und rennt zu dem Verletzten. Als wir den Platz der Schaulustigen erreichen, trägt das Opfer bereits eine Halskrause und eine Infusion hängt an seinem Arm. Der Rettungswagen mit seinem Blaulicht sichert den Sanitätern das Leben, indem es den Verkehr von vorne zwangsläufig abblockt. Und das meine ich ernst. Einer der Männer stellt Kegel rund um die Unfallstelle auf. Einige Motorradfahrer nutzen sie wirklich als Slalomhindernis und kurven um sie herum und dazwischen. Die Autos schrammen die Dinger, während sich zwei Sanitärer mit einem Notarzt um den Schwerverletzten kümmern. Ein Taxifahrer (kleiner dunkler Mann) kurbelt die Scheibe herunter und schimpft: „Hey, räumt gefälligst diese Mistkarre beiseite!“ Ich glaube, nicht richtig zu hören, doch mein französischer Kollege bestätigt das. Noch einer bremst und schreit: „Schieb deinen Wagen von hier weg!“, und meint den Krankenwagen. Die Nothelfer sind unbeeindruckt. Von einer Polizei ist weit und breit nichts zu sehen. Fassungslos stehe ich da und merke, dass die Batterie in meiner eingebauten Fernbedienung alle ist, schade, ich kann das Reality TV Programm vor mir nicht wechseln. „Die Autos stehen bis weit über die Kreuzung, sieh mal!“, sagte mein Kollege, zuckt mit den Schultern und ergänzt: „Sie könnten sich wirklich beeilen!“ Wau! Am 15.11 musste ich dann Folgendes erleben. Mitten im wartenden Verkehr vor einer Ampel steht ein Feuerwehrwagen mit Blaulicht, aber ohne Sirene. Ein Durchmogeln ist zwecklos, denn die Kreuzung ist hoffnungslos verstopft. Endlich bewegt sich der Tross nach vorne und der Feuerwehrwagen kann sein Glück kaum fassen. Doch bevor er anfahren kann, quetscht sich ein Lieferwagen vor ihn an die Seite, bleibt an der Seite  stehen und schaltet den Warnblinker an. Seelenruhig steigt der Fahrer aus und öffnet die Seitentür. Nun knipst der Feuerwehrwagen doch die Sirene ein, aber das beeindruckt einen gestandenen Pariser Lieferanten nicht die Bohne. Ohne Eile nimmt er ein paar Kartons in die Hand und winkt wütend dem Pompier zu, er solle gefälligst die Sirene aus machen. Der Feuerwehrmann am Steuer reagiert wie alle Pariser Autofahrer in dieser Situation: Er zieht voll auf die Nebenspur und zwingt einen anbrausenden Wagen auf den Bürgersteig. Der ist hier etwas hoch und so hüpft der BMW. Doch es ist ein Geländewagen und mir wird zum ersten Mal bewusst, wie praktisch ein solches Geschoss in einer Stadt doch ist. Von Bremsen oder Langsamfahren seitens des deutschen Oberklassewagens keine Spur. Der BMW zieht an, gibt seinerseits ein paar unachtsamen Fußgänger die Möglichkeit einer grazilen Akrobatikeinlage zur Seite hin und quetscht sich vor dem Blaulicht auf die Spur zurück. Die Kreuzung ist wieder zu! Der neutrale Beobachter kann sich nur wundern und ihm wird klar, dass man sich als Passant besonders vorsichtig zu verhalten hat. Das Gefährlichste an einer Straßenüberquerung ist der eventuelle Weg ins Krankenhaus. Die Geheimloge der kleinen braunen Männchen arbeitet auch nachts. Meist ist der unmittelbare Weg auf dem Bürgersteig durch eine wilde Schar bunter Müllbehältnisse blockiert. Stets muss man auf die Fahrbahn ausweichen, vor allem, wenn man wie ich einen Koffer hinter sich herzieht. Das ist nicht nur lästig, sondern wegen der wenigen freien Meter auch lebensgefährlich. Dies sind nämlich die Beschleunigungsstreifen frustrierter Autofahrer. Wenn es also ein paar Meter frei ist, muss man zeigen, dass das Auto nicht vergebens entsprechende Pferdestärke unter der Haube hat. Und ich beobachte eines dieser kleinen braunen Männchen: mit einer Handkarre stößt er eine grüne Tonne beiseite, kippt sie auf die Straße und der Weg vor ihm ist frei. Frohgemut folge ich ihm. Leider biegt er in die nächste Hofeinfahrt ab. Nun liegt es an mir, meine Solidarität mit den Rettern der Unschuldigen zu beweisen. Ich schubse selbst die Abfallbehälter geschickt aus dem Weg. So, wie ich es gelernt habe, rücke ich sie direkt vor Haustüren oder in Einfahren zu Hinterhöfen. Wichtig dabei ist, dass man sich nicht umsieht, ob man beobachtet wird. Insgeheim sind wir Fußgänger alle auf derselben Seite, bis auf die unwissenden Touristen, versteht sich. Ich helfe einer Dame einen großen Müllcontainer in eine Toreinfahrt zu schieben und zwar so, dass ankommende Fahrzeuge ihn nicht sofort sehen. Sie müssen nun die Straße versperren, um das Ungetüm beiseite zu räumen. Dieser geniale strategische Schachzug gefällt mir besonders. Die wütenden Parkplatzsuchende können den Container ja nicht auf seinen alten Platz zurückschieben, denn da steht ja ihr Auto. Wohin also? Tja. Als Unsitte betrachte ich auch, dass manche Bistros ihre Tische bis fast auf den Rinnstein aufbauen, sodass man gezwungen ist, einen Schlenker einzulegen. Ein solches Etablissement befindet sich an der Rue Quatre Septembre. Wegen des kühlen Wetters hat der Wirt nun auch nochein Zelt aufgebaut und es bleiben uns Passanten nur eine besonders schmale Bordsteinkante. Zwei kommen nicht aneinander vorbei, ohne dass einer einen Fuß auf die Rue setzen muss. An einem magischen Morgen steht auch noch ein Plakatständer mit der Tageskarte im Weg. Ich peile das Objekt an, ziele und will Anlauf nehmen, um es mit zufälligen Fußtritten vor die Kehrmaschine der Straßenreinigung zu befördern, als mit ein kleines braunes Männchen den Job abnimmt. Er steigt auf eines dieser Bikes mit drei Rädern, startet die 420 Kubikcentimeter und rast über den Bürgersteig genau auf die Reklametafel zu. Er erwischt sie noch mit dem Hinterrad, ehe er auf den Boulevard abbiegt. Der Werbeträger purzelt über den engen Gehsteig, genau vor die Kehrmaschine, die darüber rattert und ihn gnadenlos zerquetscht. Der Besitzer des Bistros stürmt heran, aber zu spät. Hach, wer hätte gedacht, dass ich jemals heimlich einem Rocker auf dem Trottoir Beifall spenden würde? Ich nicht. Wie wichtig den Parisern ihre Mobilität ist, zeigt ein weiteres Beispiel. Neben unserem Gebäude hatte sich im Spätsommer ein Clochard niedergelassen. Auf einer dicken Matte knackt er den ganzen lieben Tag. Nachts scheint er loszuziehen. Jeden Morgen, wenn ich komme, freue ich mich, wenn er noch lebt. Es ist zwar eng auf dem Bürgersteig, aber man kommt durch. Und der Winkel ist auch nicht wirklich unsauber. Zwar stehen immer ein paar Flaschen Wein herum, jedoch niemals Glasscherben. Der Gute ist unaufdringlich, bettelt nicht und pöbelt keinen kann. Eines Tages ist er weg. Komplett mit Matratze und seinen Pappkartons. Niemand mehr, der den Müll in den Abfallbehältern trennt oder einem mit einem schmerzverzerrten Katergesicht einen fröhlichen Gruß entgegen schmettert. „Wo ist denn unser Hausclochard hin?“, frage ich unschuldig und erwarte eine Antwort wie: „Ja, also der ist jetzt an der Côte d‘Azur oder in einem Sonderheim mit Kabelfernsehn für bedürftige Menschen“, oder so etwas in der Art. Stattdessen erhalte ich eine unerwartete Erklärung: „Den haben sie gestern Abend mit der Polizei vertrieben.“ „Ah, so ist das, schade“. Er passte mit seinen Klamotten und dem Outfit exakt in den Finanzdistrikt von Frankreich, dem Gebiet um die Börse! „Wurde auch Zeit. Es war ja kein Platz mehr auf dem Gehsteig“, moniert sich mein Kollege. Das leuchtet ein, es war halt in der Tat etwas eng, doch dann lauert ein Gedanke in mir und ich frage weiter, nur um ihn loszuwerden: „‚Äh, Platz? Für was denn das?“ „Na, um Motorräder zu parken!“ Nun kommt man gar nicht mehr durch. Schlaft gut, wo immer ihr seid.