Travelling with Jonathan Jonathan Philippi Autor Paris 2010 November Startseite Bücher Galerie Travelling with Jonathan Kontakt Blog Über mich Links Termine
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Die Metropole der Grande Nation (2)

Weißblechdosen und Aufzugsralley Heute Morgen traue ich meinen Augen kaum. Auf dem Weg vom Hotel zum Büro habe ich sie entdeckt. Ein Schatz schimmert mir aus einem schmalen Laden entgegen. Da liegen sie: in Reih und Glied, nebeneinander, aufeinander. Dunkelrot. Schon längst vergessen aus einer pre-Grünen Ära. Die Vergangenheit holt mich ein und ich kann mich nicht bremsen. Ich kaufe gleich zwei ... Coladosen. Mann, wann habe ich die zum letzten Mal in Händen gehalten? Glatt, eiskalt. Kein lästiger Drehverschluss, keine abstehenden Plastikteile um den Deckel. Einfach, schlicht, ästhetisch. „6,20 Euro“, sagt die Kassiererin und ich schlucke. Zwölf gute alte Deutsche Mark für zwei Dosen sind eine Investition, die sind halt was Besonderes. In den tiefsten Katakomben im Geheimen aufgehoben nur für diesen einen Zweck: antiquarisches Vergnügen aus dem vorigen Jahrtausend. Ach, was haben uns die Umweltfanatiker damit doch gestohlen. Und wozu? Wurde die Erde sauberer oder der Müll weniger? Ist das Ende der Welt nach hinten verschoben worden? Fragen über Fragen. Ich grübele, während ich den Weißblechdeckel genießerisch nach innen knicke und baff zusehe, wie mir braune Zuckerpampe erst über die Hände, dann über den Anzug glibbert. Ach ja. Schön, so was noch zu erleben. Im Büro erzähle ich sofort von meinem kulinarischen Erlebnis des Spaziergangs vom Hotel und werde umgehend in den vierten Stock eskortiert. Offensichtlich soll ich meine Freude mit dem Projektleiter des Kunden teilen. Doch nein. Um eine Ecke brummt ein Verkaufsautomat: voller Dosen: Eistee, Cola, Fanta, Sprite, Schweppes. Jede für 80 Cent. So schnell kann man vom Olymp fallen. In Frankreich gehen die Uhren doch ein bisschen anders. In dem Gebäude unten ist, ich erwähnte das bereits, ein riesiges Kinderkaufhaus. Also nicht, dass man da Kinder kaufen kann, obwohl, so manches wird sicherlich liegen bleiben, wenn die verzückten Eltern die Waren bestaunen. Es gelingt mir, einen Katalog zu ergattern. „Noel 2010“ steht drauf und er hat genau 732 Seiten. Wau. Übrigens nur Sachen für Kleinkinder bis zum Schulalter, also bis 5 Jahre. Gleich nebenan ist der größte Legoshop in Frankreich mit Modellen, die man angeblich so nicht überall erstehen kann. Das wiederum kann ich verstehen, ich kann sie wirklich nicht erwerben. Gut doppelt so teuer wie bei uns. Einige Technikmodelle kosten so um die 300 Euro. Da macht das Herz des Papas einen Freudensprung, denn dann kaufe ich auch nichts. Über Mittag speisen wir in der Kantine des Kunden. 4,82 Euro kostet es für uns Ausländer. Also das ist der Zuschlag. Egal, was wir haben möchten. Cola, Kaffee, Essen. 4,75 Euro für eine Malzeit (der Thunfischsalat entpuppt sich als gehäckselter Lachs), eine Cola (JA! IN EINER DOSE!) und ein Stück Kuchen. Plus 4,82 schikanösem ausländerfeindlichem Zuschlag. Das müsste man mal bei uns zu Hause bringen. Ich sehe schon die Sarazingegner ins Feld ziehen. Obwohl, wenn jeder Ausländer das in Deutschland pro Mahlzeit bezahlen müsste, könnte man den restlichen Deutschen das Harz IV finanzieren. Dass da noch niemand drauf gekommen ist ... Auch dieser Tag vergeht wie im Fluge. Urplötzlich ist es dunkel, genug gemeetet und geprotokollt. Zeit für den Spaziergang zum Hotel. Der Weg führt direkt zum Louvre und von dort rechts an Andenkenläden vorbei. Ich dachte schon, so etwas gibt es nicht mehr. Ein Shop neben dem anderen. Jeder hat exakt die gleichen Waren. Hunderte Meter voller Sachen, die man absolut zu Nichts gebrauchen kann. In diesem Jahr ist offensichtlich ein Eiffelturm aus Plastik mit kleinen bunten Blitzlichtern schick. Nicht ganz so groß wie das Original, ist es doch eine Zierde für jedes gute mitteldeutsche Wohnzimmer. Besonders zur Weihnachtszeit. Ich erreiche das Quartier americane: Steakhouse, McDonalds, Starbucks, Pizza Hut, Burger King, Subways, Tür an Tür in trauter Monokulti Atmosphäre. Die Rue Rivoli ist länger als gedacht, staunend laufe ich am Hoteleingang vorüber. Und so muss ich die andere, die dunkle Seite des Tourismus entdecken: Tausende Busse, also mindestens fünf, deren Auspuffrohre im Stand schwarze Rußwolken in den Pariser Nachthimmel spucken. Die Fahrer stehen beieinander und unterhalten sich, Zigaretten in den Mundwinkeln, während ihre Megaliner schöne warme Luft nach innen pusten, damit die Gäste es mollig haben, wenn sie aus dem Theater kommen. Und neben den knatternden und hupenden Mofas mit ihren blauen Duftwölkchen geht der Lärm der schweren Dieselmotoren völlig unter. Leute, ich kann mit Fug und Recht behaupten: wenn die Erde vergiftet untergeht, es hat nicht an den Coladosen gelegen. Zwischen einem T-Shirt-Laden und einem Souvenirshop finde ich die Tür zum Hotel. Wie ein Trichter öffnet sich das Foyer zum riesigen Innenhof. Diese Herberge bietet einen zusätzlichen, kostenlosen Nervenkitzel: eine Art Bungeespringen in Zeitlupe: ich meine den Aufzug. Zwei Damen sitzen in einem Sofa und lugen um die Ecke zu den Lifts. Sie kichern und lachen hinter vorgehaltener Hand, wenn ein Gast die zur Beförderung vorgesehenen elektrischen Schaltungen bedient. Ich schleiche mich unschuldig an ihnen vorbei und pirsche mich von rückseitig an. Die Damen spielen das beliebte Fahrstuhlroulette. Sie schätzen, wann welcher der Lifte tatsächlich kommt, wenn man auf den Knopf betätigt. Langsam wird es den Ladys zu langweilig, denn die Rubrik „Mann drückt Knopf, haut noch mal drauf, prügelt hundertmal auf ihn ein, flucht und geht die Treppe“ hat eindeutig die meisten Kreuze. Also verzichte ich auf den spannenden Ausgang der täglichen Rallye und stampfe zu Fuß das Treppenhaus hoch, nachdem ich vergebens bestimmt tausendmal auf den Knopf eingedroschen habe. Der enge und seltsam exotisch aromatisierte Treppenschacht ist erstaunlich gewunden angelegt, denn es geht nicht in einem Rutsch durch. Mittendrin hört es auf. Ich befinde mich auf der dritten Etage. Ein Schild weißt zu den Fahrstühlen. Aber keiner ist da. Ein Bettler schlurft mir entgegen und bittet um eine milde Essengabe, einen Schokoriegel oder etwas Ähnliches. Schon zwei Tage irre der arme Mann auf der Suche nach seinem Zimmer umher. Völlig desorientiert und in zerlumpten Klamotten steht er vor mir. Dabei hatte er sich nachts nur in der Tür geirrt. Er wollte auf die Toilette und stand im Flur; Tür zu. Bei dem Versuch, eine Alternativlösung zu seinem Badezimmer zu finden, habe er sich verirrt. Ich kann mit ihm fühlen. Schweren Herzen trenne ich mich von der letzten Coladose. Er sagt nicht einmal Danke, sondern leert sie gierig in einem Zug. Ich gehe weiter, öffne ein paar versteckte Türen und siehe da: Es geht nach oben. Diese Treppe bringt mich flugs in den achten Stock. Das Dach ist schräg, höher geht es nicht. Ich balanciere an einem schmalen Steg entlang und komme zu einem einladenden Treppenaufgang. Voller Freude laufe ich hinunter, schwebe förmlich über den Stufen, falle fast und purzele beinahe ... und stehe im Foyer. Der Lift ist da, vier Japaner gehen hinein. Ich kenne keine Gnade. Ich quetsche sie so nach hinten, wie man es von der Tokioter U-Bahn her kennt, und zwinge mich dazu. Franzosen scheinen schlanker zu sein als wir Deutsche. Auf einem Schild ist zu lesen: 8 Personen oder 500 Kilo. Ergibt also knapp über 60 Kilo pro Individuum. Ich zähle da sicherlich als zwei, aber die Asiaten wiegen das locker auf, sodass als Endergebnis bestimmt etwas Ähnliches wie „-2“ herauskommt. Ich drücke die Vier. Sie leuchtet nicht, tat sie gestern auch nicht. Der Fahrstuhl öffnet sich auf der 1. Einer steigt aus, hält die Tür auf und spricht mit den anderen seine „Auo oui“ und „eyeyeoah“ Sprache. Ich störe nur ungern, aber ich dränge, denn so langsam breitet sich ein menschliches Bedürfnis in mir aus. In einer Aufzugskabine geht das nur dann gut, wenn man nicht in Gesellschaft ist. Der Asiat schlendert winkend von dannen, nicht ohne 44 Abschiedsbilder zu knipsen und der Aufzug hebt sich. Der Lift hält auf der 2. Das gleiche Spiel beginnt von vorne. Unauffällig nähere ich mich mit meinem Rucksack der Hand, die die Tür blockiert, während der kleine Mann mit den schmalen Augen grunzt und „aoo“ macht. Die scharfe Kante meines Reisverschlusses schlitzt eine tiefe Fleischwunde in seinen Daumen. Er schreit kurz auf. Ich entschuldige mich mit besten Französisch: „Pardon, Monsieur!“. Die Tür klappt zu und weiter geht es. Der nächste Halt ist die 3. Mist. Schon wieder dieses Palaver. Nun bin ich ungehalten. Ich haue mit meiner Faust voll auf die Hand der aufzugsblockierenden Person und brülle den Asiaten an, was ihm einfällt, ein öffentliches Verkehrsmittel privat zu missbrauchen. Und in tiefsten saarländischem Dialekt schreie ich ihn an: „Was fällt dir ein, du Knirps. Sieh gefälligst zu, dass du Land gewinnst, sonst scheuere ich dir eine, dass du Salto schlägst.“ Er muss das für Französisch halten, sieht mich mit aufgerissenen Augen an und trollt sich.. Nun huscht die Kabine endlich meinem Ziel entgegen. An der Vier vorbei auf die Fünf. Der Letzte steigt aus, sieht mich an und zögert. Ich hebe meine Hand zur Ohrfeige. Er stellt sich in Position, wie ein Karatekämpfer, ruft so was wie „Huoha Heng!“, und schlägt zu. Zum Glück ist die Tür schneller und sein Schmerzensschrei hallt durch den Schacht. Ich dresche auf die Vier, aber er fährt beharrlich daran vorbei in das Erdgeschoss. Zwei Amerikaner steigen ein. Ich prügele wie wild auf die Vier ein, aber das Ding gleitet elegant hinweg in die Sechs und anschließend in Zeitlupe abwärts. Nach einer Viertelstunde stehe ich im Foyer, nachdem ich zwei Leutchen vom Fünften in den Dritten und eine Dame vom zweiten in den Keller begleitet habe. Nun reicht es. Ich trete, hämmere und schlage auf die Vier. Vergebens. Ein altes Ehepaar guckt mich fragend und verstört an. Aber trotz meines Grunzens betreten sie beherzt, wenn auch zitternd und langsam schlurfend, den Fahrstuhl. Die Dame drückt auf die Vier. Sie leuchtet. Ein Wunder. Sie leuchtet nicht nur, sie strahlt! Ich lache und weine, verbiege mich vor lauter Freude in der Ecke wie ein Schlangenmann, der ein halbes Schwein verschluckt hat. Der Lift hält in der vierten Etage. Ich hechte an den beiden vorbei und falle auf die Knie, um den Teppichboden zu küssen. Die alte Dame tut es mir nach. Auch sie fällt auf den Boden, jedoch aus einem anderen Grund. Ich mache, dass ich davon komme. Ich haste zu meinem Chambre Supérior und schließe auf. Ich fühle mich im Luxus. Das ist es, wofür es sich zu Leben lohnt. Pure Dekadenz in der heutigen Zeit mitten in Frankreich in einer Oase, meinem Zimmer: Die Lampen brennen immer noch und das Beste: Ich habe Licht auf dem Klo. Die Nacht kann kommen!
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